Perspektiven Bochum

Bildungsproteste – Perspektiventreffen in Bochum

04.-10. Oktober 2010
Seit mehreren Jahren gibt es vernetzte Proteste im Bildungssystem unter verschiedenen Labels. Viele haben dabei versucht, auf möglichst viel Öffentlichkeitswirksamkeit und Massenkompatibilität zu setzen. Die Forderungen entsprachen zwar immer auch grundsätzlichen linken Ideen, kratzten aber aus diesem Grund nur an der Oberfläche. Wirkliche Veränderungen blieben dagegen weitgehend aus.

Dies überrascht uns nicht, da unsere Wünsche nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung dem Konkurrenzdenken und den damit verbundenen Machtverhältnissen in dieser Gesellschaft widersprechen. Der Verwirklichung unserer Wünsche müßte also ein gesellschaftlicher Wandel vorweg gehen, der sich nicht kurzfristig vollzieht. Den anzustoßen dürfte eine größere Herausforderung darstellen, als alle Wertewandel der letzten Jahre, da er mit dem Aufgeben der tradierten kapitalistischen Handlungs- und Denkschemata verbunden ist.
Durch diese Feststellung wollen wir uns nicht zur Apathie (Teilnahmslosigkeit) verleiten lassen, sondern wenden uns teilweise vielleicht noch zu entwickelnden anderen Aktionsformen zu und begeben uns auf den Weg zu einer emanzipierten Gesellschaft mit einem entsprechend emanzipatorischen Bildungssystem.
Wir wollen den Versuch wagen. Radikalisieren (im Sinne von an die Wurzel gehen) wir unsere Kritik, dezentralisieren wir unsere Aktivitäten, gehen wir ehrlich und offen mit der Gesellschaft um und konfrontieren sie da, wo wir mit ihren Strukturen konfrontiert sind, mit unserer Kritik. Entwickeln wir Positionen. Fordern wir das, was Stand unserer Diskussion ist. Nehmen wir als Betroffene unsere Belange selbst in die Hände und probieren unsere Ideen aus.
Soll auch Deine Politik eine andere werden? Wir wollen mit Dir gemeinsam unser politisches Denken und Handeln neu gestalten. Hin zu einer Politik der direkten Aktion, einer Politik der unmittelbar wirksamen, selbst initiierten Veränderung. Konfrontieren wir gemeinsam die mit
kapitalistischer Ideologie durchtränkte (Hoch-)Schullehre mit unserer Kritik, setzen wir ihr selbstbestimmte Seminare und Bildungsforen entgegen und bestimmen wir selbst, was und wie wir lernen und leben!
 
Deshalb laden wir zu einem einwöchigen Perspektiven-Treffen vom
*04. bis 10. Oktober 2010* nach *Bochum* ein.
Dort wollen wir unsere Erfahrungen und Meinungen austauschen, im solidarischen Dialog Positionen entwickeln und Raum schaffen, um gemeinsame Aktionen zu planen. Es geht uns also um gute Diskurse, in denen alle Platz finden und nicht um Gewaltreden, mit denen Menschen hinter einem Standpunkt versammelt werden, um dann eine Minderheit zu übergehen. Um eine Kultur des gewaltfreien und gemeinsamen Umgangs zu fördern, werden wir uns an den Ideen der gewaltfreien Entscheidungsfindung im Konsensprinzip orientieren.
Wir wollen keine großen Massenaktionen, sondern direkte, vernetzte Umsetzungen eines anderen Bildungs- und Gesellschaftssystems ebenso wie die konsequente direkte Konfrontation des bestehenden Systems und seiner Protagonist*innen mit unserer Kritik.
Wirklich selbstbestimmt Lernen und Leben!
AG Perspektiven

Sudbury-Pädagogik

Die Sudbury-Pädagogik geht auf eine Gruppe von Eltern und Pädagogen zurück, die im Jahre 1968 die Sudbury Valley School nahe der Stadt Framingham im US-Bundesstaat Massachusetts gründeten. Die Sudbury-Gründer waren zwar überzeugt vom Konzept der Summerhill-Schule, dieses ging ihnen im Grad der demokratischen Selbstbestimmung jedoch nicht weit genug.

Die Sudbury Valley School ist keine Internatsschule, was den Umfang der zu lösenden Probleme deutlich reduziert. Man stellt den Schülern die Teilnahme am regulären Unterricht frei, die aktuelle Abiturquote (A-Level) liegt nach Angaben der Schule bei 98 %. In Sudbury Valley hat sich indessen im Laufe der Jahre eine Lernkultur entwickelt, die ohne regulären Unterricht auskommt.18 Lehrer erteilen Kurse nur auf Anforderung der Schüler. Ein normierter Abschluss wird nicht angeboten, die Gesetzgebung schreibt lediglich geringe Mindestanforderungen in Englisch und Mathematik vor, die von Sudbury-Schülern in der Regel problemlos erfüllt werden.

Auf Schülerwunsch werden Vorbereitungskurse für externe Abschlussprüfungen erteilt. Die Abiturquote liegt derzeit bei 86 %. Die Grundsätze der heutigen Sudbury-Schulen können folgendermaßen zusammengefasst werden: Die Kinder und Jugendlichen entscheiden selbst, womit sie ihre Zeit verbringen. Dies setzt voraus, dass keiner von ihnen gezwungen wird, etwas Bestimmtes zu lernen oder zu tun. Lehrpläne existieren nicht, nur auf ausdrückliches Verlangen der Schüler wird Unterricht erteilt. Alle Beteiligten, einschließlich der Pädagogen und Mitarbeiter, sind gleichberechtigt. Sie haben die gleichen Rechte, aber unterschiedliche Rollen. Rechte werden in Regeln festgelegt, letztere werden wiederum auf wöchentlichen Schulversammlungen demokratisch diskutiert und per Mehrheitsentscheid beschlossen. Vom gewählten Justizkomitee werden Strafen bei Verstoß gegen die Regeln verhängt. Jeder hat die Möglichkeit, in die Berufung zu gehen. Wie in Summerhill werden auch in Sudbury Valley Strafen v.a. als symbolische Geste zur Versöhnung mit der Gemeinschaft verstanden.

Übereinstimmend mit anderen reformpädagogischen Modellen wird in Sudbury-Schulen sowohl auf Klassenstufen und damit Alterstrennung als auch auf Bewertungen verzichtet. Eine Besonderheit ist, dass auch schriftliche Beurteilungen, wie sie etwa in Waldorf- und Montessori-Einrichtungen üblich sind, nicht erteilt werden.

Das Modell der Sudbury-Valley-School wurde in den USA und Kanada von vielen  Schulgründungsinitiativen erfolgreich nachgeahmt. In den 90er Jahren erreichte die Sudbury-Gründungswelle Australien, Israel und schließlich Europa.

Der Jena-Plan

Der Jena-Plan geht auf den Erziehungswissenschaftler Peter Petersen zurück, der 1923 bei seiner Berufung nach Jena die deutschlandweit einmalige Situation einer universitären Versuchsschule vorfand. Er baute diese zur Forschungsschule aus und untersuchte systematisch den praktischen Erfolg diverser pädagogischer Ansätze. Aus diesen Forschungen entstand ein Metakonzept, das Elemente verschiedener Reformpädagogiken zusammenführt und um eigene Ideen ergänzt. Es ist 1927 im Rahmen der Konferenz New Education Fellowship in Locarno unter dem Namen Jena-Plan bekannt geworden. Petersen verstand Schule als Lern- und Lebensort, der wesentlich durch die zentralen Prinzipien Selbständigkeit, Gemeinschaft und Mitverantwortung geprägt sei. In seinem Konzept der Bildungsgrundformen stellt er das Gespräch, das Spiel und die Feier heraus. Petersen wendet sich gegen das Primat des Individualismus: Ob als Gruppengespräch im Kreis oder als Zweiergespräch in der freien Arbeit – die soziale Interaktion ist für Petersen Grundlage des sozialen Lernens. Der Lehrer organisiert den Rahmen für Lernprozesse, sorgt für eine anregende Umgebung und eine aktive Gestaltung der pädagogischen Situation. Wesentliche Lernprozesse werden von den Kindern selbständig untereinander gestaltet. In altersgemischten Gruppen ist der Wechsel sozialer Rollen und damit das Hineinwachsen in unterschiedliche Anforderungen alltäglich.

Zu einer Jena-Plan-Schule gehören außerdem feste Rituale, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft stärken sollen und zudem Orte der Präsentation sind, an denen Lernerfolge vor der Gemeinschaft gezeigt und gemeinsam zelebriert werden. Jede Woche beginnt und endet mit einer kleinen Feier, dazu treten Monats- und Jahresfeiern. Üblicherweise gliedert sich die Arbeit in einer Jena-Plan-Schule in drei Bereiche: Fächerübergreifender Kernunterricht, Kursunterricht in speziellen Fächern und Freie Arbeit, in der die Wahl des Faches freigestellt ist. Organisatorisch ist der Schulalltag so gestaltet, dass er nicht als Alltag empfunden wird, dass Lernen und Leben in Einklang gebracht werden. An die Stelle des seinerzeit (und weitgehend ja auch heute noch) üblichen Systems der künstlichen Untergliederung des Schultages in 45-minütige Lerneinheiten, das Petersen abwertend als Fetzenstundenplan bezeichnete, weil es keine Zeit lasse, Themen, Fragen und Problemstellungen tiefgründig zu entfalten, tritt der Wochenplan, der Lernziele formuliert und zeitliche sowie methodische Freiräume zu deren Erreichung einräumt.

Im Mittelpunkt eines jeden Schultages steht eine Gruppenunterrichtsphase in den Jahrgangsübergreifenden Stammgruppen, die die nach Geburtsjahrgängen gebildeten Klassen ersetzen.

Zensuren werden nicht erteilt, an ihre Stelle ist ein Arbeits- und Leistungsbericht getreten, wobei Selbstkontrolle und Gruppenrückmeldungen zentrale Prinzipien darstellen.

Der ursprüngliche Jena-Plan sah eine gemeinsame 10-Jahres-Schule für alle vor, die staatliche Jenaplan-Schule in Jena hat inzwischen eine genehmigte und sehr erfolgreich arbeitende Oberstufe, die mit dem regulären Thüringer Abitur abschließt.

Jena-Plan ist heute in Europa, vor allem aber in den Niederlanden verbreitet, wo mehr als 450 Schulen nach Petersens Vorschlägen arbeiten.

Montessori-Pädagogik

Die italienische Ärztin und Pädagogin Maria Montessori wurde als erste Frau in Italien zum Medizinstudium zugelassen, 1896 wurde sie als eine der ersten Frauen Italiens zur Dottoressa promoviert. Maria Montessori übernahm 1907 die Leitung eines Kinderhauses in Rom, wo sie ihre Theorien erstmals anwenden konnte. Kinder bedürfen der Erziehung, deren Einfluss ist durch die genetischen Anlagen jedoch zugleich begrenzt. Gerade daher ist die Entfaltung der individuellen Möglichkeiten des Kindes ein zentraler Anspruch Montessoris.

Ihre Pädagogik orientiert sich unmittelbar am Kind und dessen Bedürfnissen. Das Kind wird in seiner Persönlichkeit als vollwertiger Mensch betrachtet, welcher bereits einen eigenen Willen und ein eigenes Ziel verfolgt. Dieser Wille wird bei Montessori ganz bewusst zum Lernen eingesetzt, etwa dadurch, dass Raum für eigene Entscheidungen zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit gelassen wird. In ihrem Konzept des absorbierenden Geistes betont Montessori die unerschöpfliche Motivation der Kinder, den Umgang mit ihrer Umgebung zu er-lernen und ihre Fähig- und Fertigkeiten weiter zu entwickeln. Demnach würden Kinder eine Aktivität so lange wiederholen, bis sie ihren nächsten Entwicklungsschritt vollzogen haben, also solange hinfallen, bis sie laufen können, so lange unverständliche Laute artikulieren, bis sie diese zu sprachlich nachvollziehbaren Äußerungen geformt haben. Aufgabe der Pädagogik sei es, Hindernisse für diese Entwicklung aus dem Weg zu räumen und vor allem selbst keines zu sein, also das Kind Zwischenziele seiner Entwicklung selbst vollziehen zu lassen. Dafür schlägt Maria Montessori eine in Größe und Gestaltung den Bedürfnissen der Kinder entsprechende Lernumgebung vor. Dieser Mikrokosmos soll kindgerechte Möbel enthalten und die Eigengestaltung einer der Entwicklung angemessenen kindlichen Welt ermöglichen. Sie entwickelte in Anlehnung an die Erkenntnisse von Itard und Séguin Lernmaterialien, die durch Form, Farbgebung und Systematik gezielt die Sinne ansprechen und so das Interesse und die Neugierde als das natürliche Lernbedürfnis des Kindes ansprechen und fördern sollen. In ihrem Konzept der selbstkorrigierenden Lernmaterialien postulierte Montessori eine dreistufige Lektion für das Kind, das das Material zunächst mit seinen Sinnen wahrnehmen und die bei ihm entstandenen Sinneseindrücke beschreiben, anschließend eine Verbindung von Gegenstand und Namen herstellen und das Material wieder erkennen sowie zuletzt den sicheren verbalen und praktischen Gebrauch des Materials beherrschen soll. Das spielerische Lernen wird weitgehend beibehalten und durch altersgemäßes Lernmaterial bis ins hohe Kindesalter gefördert. Der eigene Wille wird bei den Kindern auch dadurch gefördert, dass sie sich frei für Art und Dauer einer Beschäftigung entscheiden können. Da die Kinder auf diese Weise nicht das Interesse am Lernen verlieren und permanent aktiv sind, kann der nächste Lernprozess mit Motivation und Engagement angegangen werden. Wesentliches Prinzip sind die altersgemischten Gruppen, die jeweils drei Altersjahrgänge zusammenführen, also z.B. drei bis fünf-, sechs- bis acht- und neun- bis zwölfjährige Kinder. Die Rolle der Erzieher fügt sich ein in Montessoris zentrales Prinzip der Freiarbeit. Erzieher werden nur hinzugezogen, wenn es notwendig erscheint, sie sind Gastgeber, Begleiter und Helfer in der Not, die nur einschreiten, wenn das Kind danach verlangt und auch dann nur soweit, bis das Kind in der Lage ist, die Schwierigkeiten selbst zu meistern. Der bekannte Leitspruch „Hilf mir, es selbst zu tun!“ bringt diese Erziehungsphilosophie auf den Punkt. Der Externalisierung von Verantwortung wird so frühzeitig entgegengetreten. Ein guter Erzieher im montessorischen Sinn zieht dort Grenzen, wo es wirklich nötig ist. Er handelt stets verlässlich, transparent und konsequent.

Heutzutage ist die Pädagogik nach Maria Montessori das international am weitesten verbreitete reformpädagogische Konzept. In Deutschland gab es nach Angaben des deutschen Montessori-Dachverbandes im Januar 2007 etwa 1.000 Einrichtungen der Montessori-Pädagogik, davon knapp 300 Schulen im Primar- und gut 100 im Sekundarbereich. 600 Einrichtungen arbeiten im vorschulischen Bereich, ein Drittel von diesen integrativ. Die Montessori-Pädagogik ist im Bereich der Kindergärten, der Grund- und Förderschulen am weitesten verbreitet, sie wird jedoch auch an Haupt-, Sonder-, Real- und Gesamtschulen sowie in geringerem Maße an Gymnasien angewandt.